Germany, Maßweiler | 2016 06 15 | European Wildcats Paulchen and Emma at TIERART.

Fit für die Freiheit

Hilfebedürftige Wildtiere erhalten in TIERART eine zweite Chance

10.11.2025

Ein schmaler Lichtstrahl fällt durch die Fenster des Jungtierpflegebereichs der Wildtierstation TIERART, direkt auf zwei braun-beige Fellknäuel im Inkubator.

Träge öffnet eines der winzigen Wildkatzenbabys die Augen. Es zittert leicht, als Cheftierpflegerin Nicole Meyer die Klappe des Aufzuchtkastens öffnet und ihm ein Fläschchen mit Milch an die Lippen legt. Immer wieder dreht es den Kopf zur Seite. 

Dann endlich beginnt das Kätzchen zu trinken – ein winziger Schluck, der über Leben und Tod entscheidet.

Rund um die Uhr

„Die erste Zeit nach der Aufnahme ist sehr kritisch. Manche Jungtiere versuchen gar nicht erst zu trinken. Man braucht Geduld. Erst wenn sie feste Nahrung fressen, eigenständig Kot absetzten und an Gewicht zulegen, sind sie wirklich über den Berg“, erklärt Meyer. Die beiden Wildkatzenjungen wurden mit nur drei Wochen in TIERART abgegeben, nachdem Wanderer sie mutterlos im Pfälzer Wald entdeckt hatten. „Es ist wichtig, Jungtiere nicht vorschnell mitzu nehmen. Oft ist die Mutter nur auf Nahrungssuche oder versteckt sich wegen der Menschen“, betont Meyer. In diesem Fall aber war klar: Die Kätzchen brauchten sofort Hilfe. Stark abgemagert und dehydriert, mit Anzeichen eines Parasitenbefalls erlitt das schwächere Jungtier kurz nach der Ankunft in der Station sogar einen Stresskollaps und musste sofort stabilisiert werden.

In einem auf 30 °C temperierten Inkubator wuchsen die Kätzchen die ersten Wochen in Sicherheit heran. Zu Beginn wurden sie alle zwei Stunden mit Aufzuchtmilch gefüttert – auch nachts. Später erhielten sie kleine Fleischstücke und schließlich ganze Mäuse, Ratten und alles, was sie später in freier Wildbahn finden werden. „Es ist wichtig, dass sie lernen, was sie fressen können. Das bekommen sie normalerweise durch das Muttertier gezeigt“, erklärt Meyer. Da das Verfüttern lebender Tiere in Deutschland verboten ist, bastelten die Pflegerinnen wackelige Mobile aus dem Futter. Das weckt den Jagdtrieb. Damit die Kleinen üben konnten, was sie instinktiv beherrschen: wild sein.

Zurück in die Wildnis

Mit sechs Wochen waren die Kleinen schließlich kräftig genug, um den Inkubator zu verlassen und in ein abgelegenes Außengehege am Waldrand von TIERART umzuziehen. Ab diesem Zeitpunkt hieß es: Abstand halten, damit sie sich nicht an Menschen gewöhnen. Stattdessen sollten die Kätzchen die Geräusche und Gerüche des Waldes aufnehmen, Wetter und Temperaturunterschiede erleben, klettern und ihre Muskulatur aufbauen. Mit zehn Wochen erhielten sie die nötigen Impfungen und einen letzten tierärztlichen Check. Und dann, endlich, nach insgesamt vier Monaten Aufzucht waren die Wildkatzen bereit für die Freiheit. Für die Auswilderung errichtete das Team im Pfälzer Wald ein sogenanntes „Soft Release“-Gehege. Dort wurden die Tiere noch etwa eine Woche lang gefüttert, konnten die Umzäunung aber jederzeit verlassen und sich Schritt für Schritt an das wilde Leben gewöhnen. „Eines Tages kehren sie dann einfach nicht mehr zurück“, erklärt die Cheftierpflegerin.

Löwin Manuschka hat VIER PFOTEN 2024 aus einem deutschen Zirkus gerettet.

Starker Zuwachs

Die TIERART Wildtierstation kümmert sich längst nicht nur um Wildkatzen. Gegründet 1999 von engagierten Wildtierfreund:innen auf einem ehemaligen US-Militärgelände in Maßweiler, Rheinland-Pfalz, wuchs die Station Schritt für Schritt – getragen von viel Eigenleistung, Herzblut und unermüdlichem Einsatz. Von Anfang an lag der Fokus auf heimischen Wildtieren wie Feldhasen, Igeln, Wildkatzen, Mardern, Füchsen, Iltissen und Eichhörnchen. Verwaiste Jungtiere ebenso wie verletzte oder kranke erwachsene Tiere finden hier Schutz und Pflege. Seit der Gründung hat das Team bereits Zehntausende Wildtiere betreut.

Im Jahr 2013 übernahm VIER PFOTEN die Trägerschaft, professionalisierte die Wildtierstation und startete zusätzlich den Bau einer Großkatzenanlage. Heute leben hier Tiger, zeitweise auch Löwen und Pumas – Tiere, die aus illegaler Haltung, Zirkussen oder Privathand gerettet wurden. Auf über 3.000 Quadratmetern naturnaher Gehege finden sie Rückzug, Beschäftigung und Sicherheit. Ein erfahrenes Team aus Tierpfleger:innen und Tierärzt:innen sorgt rund um die Uhr für ihr Wohl.

Rückkehr der Luchse

Ein weiterer wichtiger Gast in der Station: der Luchs. Gemeinsam mit dem WWF Deutschland zieht TIERART auf einem abgelegenen Teil des Geländes verwaiste Jungluchse groß, deren Elterntiere meist illegal geschossen wurden oder im Straßenverkehr starben. In Deutschland sind die streng geschützten Raubkatzen dank Wiederansiedlungsprojekten zwar im Harz, im Pfälzer Wald und in Bayern zurückgekehrt. Doch sie brauchen vernetzte Lebensräume, sichere Wanderkorridore – und Nachwuchs aus Pflegestationen wie TIERART. „Nur so kann der Luchs dauerhaft wieder heimisch werden“, bekräftigt Meyer.

Dauergäste

Doch nicht jedes Tier darf zurück in die Freiheit. Waschbären zum Beispiel: Sie stammen ursprünglich aus Nordamerika und gelten hierzulande aufgrund einer EU-Verordnung inzwischen als invasive Art. Deshalb dürfen sie nach einer notwendigen Pflege nicht ausgewildert werden. Sie bleiben als Dauergäste. In großen, abwechslungsreichen Gehegen sorgt das Team von TIERART dafür, dass die cleveren Kleinbären genügend Beschäftigung haben.

Ob Wildkatze, Tiger, Luchs oder Waschbär – jedes Tier, das in der Wildtierstation ankommt, hat seine eigene Geschichte. Manche kehren zurück in die Freiheit, andere bleiben für immer. Doch alle finden bei TIERART Schutz, Fürsorge und eine zweite Chance.

Seit 2024 wird der Igel auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) als „potenziell gefährdet“ eingestuft. In TIERART pflegt das Team jährlich zahlreiche junge Igel gesund und wildert sie aus. Seit zehn Jahren finden in TIERART auch gerettete Großkatzen aus Zirkussen, illegaler Haltung oder Privathand ein sicheres Zuhause. Aktuell leben drei Tiger in der Station.

Heimische Wildtiere in Not

"Neue Herausforderungen"

Cheftierpflegerin Nicole Meyerarbeitet seit 2020 bei TIERART.Gemeinsam mit ihrem Teambetreut sie jedes Jahr Hundertehilfebedürftige Wildtiere.

Welche Herausforderungenerlebt ihr bei der Arbeit?

Wir spüren immer deutlicher, wie sich der Klimawandel auf heimische Wildtiere auswirkt. Früher hatten wir saisonale Schwankungen, jetzt kommen Notfälle fast das ganze Jahr über. Extreme Wetterlagen – Dürre, Starkregen, milde Winter – spiegeln sich sofort in den Tieren wider, die bei uns abgegeben werden.

Welche Arten sind besonders betroffen?

Igel zum Beispiel. Sie leiden extrem unter Lungenwürmern, weil milde Winter dafür sorgen, dass die Parasiten nicht absterben.

Auch Füchse oder Stein- und Baummarder bringen wir oft in sehr schlechtem Zustand unter. Sie finden weniger Mäuse, weil deren Bestände nach Hitze oder Starkregen eingebrochen sind. 

Selbst Feldhasenbabys kommen häufiger geschwächt zu uns, weil die Muttertiere sie nicht ausreichend versorgen können. Starke Regenfälle spülen zudem Nester von Mäusen oder Vögeln weg – die Jungtiere ertrinken. Im Sommer fehlt vielen Arten das Futter, weil Trockenheit Insekten und Pflanzen vernichtet.

Was bedeutet das für eure Arbeit?

In diesem Jahr hatten wir deutlich weniger Jungtiere. Aber die, die zu uns kamen, waren geschwächter und benötigten längere Pflegezeiten – das verursacht höhere Kosten. Es kamen auch viele verletzte Tiere: Bei hohen Temperaturen stürzen sich zum Beispiel junge Eichhörnchen aus den Nestern oder Marderjunge springen vom Dachfirst, um keinen Hitzeschlag zu erleiden. 

Wir müssen flexibel reagieren, manchmal auch nachts spontan ausrücken und Notfälle zum Tierarzt bringen. Für das Team ist das oft auch emotional anstrengend, denn häufig konnten wir nicht mehr helfen und waren nur eine Sterbebegleitung.

Was können Menschen tun, um Wildtieren zu helfen?

Schon Kleinigkeiten machen einen Unterschied: Wasserstellen im Sommer, Laubhaufen und Sträucher im Garten, bitte keine Schottergärten. Auch beim Rasenmähen sollte man auf versteckte Tiere achten. Und ganz wichtig: Bitte nicht jedes Jungtier gleich aufnehmen – manchmal ist die Mutter nur kurz weg. Im Zweifel lieber eine Wildtierstation anrufen, Ruhe bewahren und aus der Ferne beobachten. Gelegentlich ist es auch sinnvoll, sich zurückzuziehen und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nachzuschauen.

Gibt es Momente, die dich hoffnungsvoll stimmen?

Ja, zum Glück viele. Wenn wir ein zunächst völlig entkräftetes Tier nach Wochen oder Monaten gesund wieder in die Freiheit entlassen, ist das ein unbeschreibliches Gefühl. Das zeigt mir, dass unsere Arbeit sich lohnt und dass unsere heimischen Wildtiere trotz aller Veränderungen eine Zukunft haben können.

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